Die Quelle des Lebens

Vor langer, langer Zeit gab es einmal ein Dorf, in dem etwas sehr Seltsames geschah und die Welt mit einem offenen Rätsel zurückließ. Seitdem wird die Geschichte von Mund zu Mund weitergetragen und wartet bis heute auf denjenigen Menschen, der es versteht, dieses Rätsel zu lösen.

Du musst lange in der Zeit zurückgehen, um den Anfang der Geschichte zu erreichen. Wenn du dort angekommen bist, findest du inmitten einer großen Wüste ein kleines, unscheinbares Dorf, das in einer ungewöhnlich fruchtbaren Oase verborgen liegt. Unerschöpflich sprudelt darin die kristallklare Quelle des Lebens. Die Bewohner des Dorfes sahen das, was da war und nährten sich aus der Fülle. Sie tranken erquickt aus der Quelle und lebten die Träume, die daraus entsprangen. Nicht selten sah man sie in den sternenklaren Nächten am gemeinsamen Feuer, wo sie frei tanzten und die fröhlichsten Lieder sangen. Ihre Herzen waren voller Wärme und in ihrem Lächeln spiegelte sich die Leichtigkeit eines glücklichen Lebens wider. Doch es waren nicht nur die Menschen, die aus dem klaren Wasser der Quelle tranken. Auch die Blumen wuchsen lebendig in allen Farben zwischen den bunten Häusern und vermischten vergnügt ihren Duft mit der Freude dieser Menschen.

Dann aber kam es, dass ein durstiger Wanderer nach Anbruch der Dunkelheit in die Nähe des Dorfes gelangte. Er trug eine schwere Last und ächzte ununterbrochen mit jedem seiner Schritte. So wie das Schicksal es wollte, begegnete er einem der Dorfbewohner, der gerade besinnlich auf einer Düne saß und dem stillen Rauschen des Wüstenwindes lauschte. Als er das Stöhnen des Wanderers vernahm, hörte er verdutzt auf zu atmen. „Wer bist du?“ fragte er. Anstatt wirklich darauf zu antworten, erzählte ihm der Wanderer von der großen Last, die er zu tragen hatte und beharrlich auf seinem Rücken mit sich herumschleppte. Etwas verwirrt kehrte der Wüstenbewohner ins Dorf zurück. Von sich konnte er nicht erzählen, dass er so eine große Last auf seinem Rücken trug. Das Leben in der Oase war geprägt von Leichtigkeit. Etwas in ihm fühlte sich auf einmal leer an. „Was wohl die anderen Bewohner von mir halten werden, wenn auch ich so eine große Last tragen kann?“ fragte er sich schon ganz in Gedanken verloren.

Am nächsten Tag hatte er sich etliche Steine aufgeladen und kehrte zurück zu dem Wanderer, der immer noch durstig nach Wasser lechzte. „Schau dir an, was ich heute tragen kann“ sagte er stolz zu dem Wanderer. Dieser schenkte ihm anerkennend einen stummen Blick der Akzeptanz. Er hatte seinen Durst nicht gestillt, aber er fühlte sich in Gesellschaft schon etwas besser. „Immerhin einer, der mich erkennt“ dachte er. So begannen sie einvernehmlich ihre große Last um das Dorf herumzuschleppen. Sie ächzten und stöhnten mit jedem Schritt.

Keiner weiß genau wieso, jedoch wiederholte sich dieser Vorgang auf mysteriöse Art und Weise, bis sich schließlich das ganze Dorf um den Wanderer versammelt hatte. Gemeinsam schleppten sie immer mehr Steine durch die Wüste. Sie ächzten und stöhnten und schliffen sich mit gebeugtem Rücken durch den trockenen Sand der Wüste. Mit ernster Miene, jedoch stets durstig und nach Luft japsend, erzählten sie sich gegenseitig von ihrer großen Last, die sie nun zu tragen hatten. Manche schafften es sogar einen kleinen Turm aus Steinen auf ihrem Rücken zu bauen und wackelig mit ihnen herumzuschleppen. Wenn dann mal einer davon auf ihren Kopf fiel, nannten sie es „kompliziert“ und ächzten und stöhnten noch ein bisschen lauter. Es entstand ein qualvolles Klagelied, das sich immer schwerer über dem einst so lebendigen Dorf niederlegte.

Die Zeit verrann im Nichts und mit den Erinnerungen der Dorfbewohner verblassten auch die Farben der Häuser allmählich zu einem tristen Grau. Selbst die Blumen verloren ihren Duft und verließen mit hängenden Köpfen entwurzelt das Dorf. Aus einem Ort des Lebens war ein Ort verlorener Einsamkeit geworden, in dem die Stille der einzig willkommene Gast war.

Nun geschah inmitten dieser Einsamkeit und Stille ein kleines Wunder. Mit der Quelle des Lebens verbunden, wuchs eine kleine zarte Blume mit feinen Farben inmitten einer grauen Welt heran. Mutig verströmt sie seitdem einen lieblichen Duft, der in den Farben der Freude die Geschichte dieses Dorfes erzählt. Sie wartet geduldig auf diejenigen unter uns, die durstig die Quelle des Lebens suchen.

Zwei Königssöhne

Es war einmal ein greiser, alter König, der in einem großen Königreich regierte. Obwohl es in diesem Königreich eigentlich niemanden an etwas mangelte, so gab es doch immer wieder verschiedene Menschen, welche dem König ihr Leid klagten. Sie beschwerten sich über die hohen Steuern, wollten mehr Lohn oder günstigere Nahrungsmittel. Die Menschen fanden immer etwas, das ihnen nicht gut genug war.

Der König wurde immer betrübter. Was auch immer er machte, er konnte seine Untertanen nicht zufriedenstellen. Dabei lag ihm das Wohl seiner Untertanen sehr am Herzen. Nun war der alte König schon in einem hohen Alter und zu müde eine Arbeit zu machen, die nicht gewürdigt wurde. Als er eines Tages mal wieder betrübt aufwachte, beschloss er seinen Thron an einen seiner Söhne abzugeben, um sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Seine beiden Söhne waren bereits zu jungen, stattlichen Männern herangewachsen. Es stellte sich nun die knifflige Frage, wer denn von den beiden sein Nachfolger werden sollte.

Einer der klugen Berater des Königs hatte eine wunderbare Idee. Um zu entscheiden, wer von den beiden am geeignetsten ist, schickte er die Königssöhne mit einem ungewöhnlichen Auftrag fort. Sie sollten ihm das Wertvollste bringen, was sie finden können. Danach würde der König entscheiden, wer das Königreich bekommt.

Die Erfahrung des einen Königssohnes

Der eine der beiden Söhne, ein sehr kräftiger und tapferer Mann, holte sein reich geschmücktes Pferd und machte sich auf die Suche. Er ritt durch die Felder des Königreiches, überquerte Flüsse und suchte und suchte. Die Schätze des Königreiches kannte er bereits und das, was er kannte, war ihm nicht wertvoll genug. Also begann er seine Suche woanders. Er wusste, dass es in einem benachbarten Königreich sehr viele mysteriöse Reichtümer gab. Immer wieder hatte er am Hof verschiedene Händler davon erzählen hören. Hoch zu Ross befragte er die Fremden, die ihm unterwegs begegneten, nach diesen Schätzen. Er begab sich immer mehr in die Fremde und entfernte sich so immer weiter von zu Hause.

Irgendwann begegnete er schließlich einer runzeligen, alten Frau. Er hatte schon lange niemanden mehr gesehen und fragte daher auch diese alte Frau nach einem großen, wertvollen Schatz. Die Frau lachte ein wenig und erzählte ihm geheimnisvoll, dass sie die Hüterin eines der größten Schätze dieser Erde war. Der junge Königssohn wähnte sich am Ziel und wollte den Schatz begierig anschauen. Ahnungslos führte die Frau ihn in eine entlegene Höhle. Geblendet von dem Funkeln und dem Glanz dieses Schatzes verlor der stolze Königssohn beinahe den Verstand. Er konnte gar nicht aufhören zu schauen. Immer wieder sah er neue leuchtende Kostbarkeiten, die ihm in der dunklen Höhle entgegenfunkelten. So etwas Wertvolles hatte er noch nie gesehen. Der Thron war zum Greifen nahe. Was wohl sein Vater sagen würde, fragte er sich? Und erst die ganzen Untertanen. Mit diesem Schatz wäre er bestimmt der reichste König weit und breit. Diesen Schatz musste er haben.

Mit glühenden Augen versprach der nichts ahnende Königssohn, dass die Frau alles bekommt, was sie will, wenn sie ihm nur den Schatz überlässt, um ihn seinem Vater zu bringen. Die runzelige, alte Frau war jedoch in Wirklichkeit eine böse Zauberin. Sie hatte den Schatz nur herbeigezaubert, um den Königssohn zu überlisten. Sie wollte nämlich, dass er sie zur Königin macht und mit ihm einen Sohn zeugt, der dann das Reich mit ihr regieren wird. Mit knirschenden Zähnen sagte der gierige Königssohn zu. Irgendwie würde er die Alte schon loswerden, dachte er. Mit erhobenen Hauptes trat er siegessicher die Heimreise an.

Die böse Zauberin wurde er von da an allerdings nicht mehr los, aber dies erzähle ich dir in einer anderen Geschichte. Lass uns einmal schauen, wie es dem anderen Königssohn auf seiner Schatzsuche ergangen ist.

Die Erfahrung des anderen Königssohnes

Der andere Königssohn bestieg auch sein Pferd und begab sich auf die Suche nach etwas Wertvollem für seinen Vater. Nach einiger Zeit begegnete er einem sehr armen, älteren Ehepaar, das mit viel Mühe ihr Feld bestellte. Der junge Mann hatte Mitgefühl mit ihnen und überließ ihnen sein Pferd zum Pflügen. Als Königssohn konnte er sich ja jederzeit ein anderes besorgen. Einen Hinweis zu einem Schatz konnten ihm die beiden zwar nicht geben, sie bedankten sich bei ihm jedoch sehr herzlich und wünschten ihm alles Gute für seinen Weg.

Der junge Königssohn kam nun langsamer voran. Jeden Schritt musste er selber machen. Vielleicht hätte er das Pferd doch behalten sollen, fragte er sich, als seine Füße schon ziemlich müde waren. Er suchte sich einen sicheren Ort für die Nacht und fiel müde in einen tiefen Schlaf. Nun waren in dieser Gegend allerdings auch Räuber unterwegs, welche die prachtvolle Kleidung des Königssohnes aus der Ferne gesehen haben. Geschickt raubten die Räuber dem schlafenden Königssohn all seinen Besitz mitsamt seiner Kleidung.

Als der Königssohn am Morgen erwachte konnte er sein Unglück nicht glauben. Er beklagte sich, weinte und jammerte vor sich hin. Womit hatte er das verdient? Da er nun nackt war, hatte er das Gefühl nichts wert zu sein. Er hatte nichts mehr anzubieten und vor allem würde nun keiner mehr erkennen, dass er eigentlich ein Königssohn war. Nichts war ihm von seinem alten Glanz mehr übrig geblieben. Entmutigt lief er in einen nahegelegenen Wald, um sich dort zu verstecken. Niedergeschlagen irrte der hoffnungslose Königssohn durch den dunklen Wald. Immer unheimlicher wurde es ihm dabei. Ob seine Füße wussten, wohin sie ihn trugen? Angestrengt überlegte er, ob es nicht doch jemanden gab, der ihn erkennen würde.

Irgendwann kam er schließlich hungrig und durstig zu einem Häuschen an einer schönen Lichtung. Verzweifelt klopfte er mit seinen letzten Kräften an die Tür. Es öffnete eine alte Frau. Hilflos gab er zu verstehen, dass er durstig und hungrig war aber nichts zu geben hatte. Glücklicherweise erkannte sie seine Not und gab ihm zu trinken und zu essen. Er durfte sogar ein wohltuendes Bad im warmen Wasser nehmen. Als er danach in einen Spiegel blickte, erschrak er jedoch. Was er sah, war nicht mehr der ehemalige Königssohn, den er einmal kannte. Er schaute einen wunderschönen Jüngling an, der von einem goldenen Schimmer umgeben war. Erst nach einiger Zeit wurde ihm bewusst, dass er sich gerade selbst anschaute.

Auf einmal wurde er von einer großen Freude erfüllt. Tränen rannen ihm über sein Gesicht, welches er immer wieder erstaunt anblickte und zärtlich mit seinen Händen berührte. Das war er, nur er. In seinem Herzen wusste er, dass er gerade etwas sehr Wertvolles gefunden hatte…

Mit viel Dankbarkeit verabschiedete er sich bei der alten Frau und versprach ihr, für sie zu sorgen. Beglückt und froh machte er sich auf den Heimweg. Der Wald war auf einmal gar nicht mehr so dunkel und unheimlich. Er genoss den Geruch des Waldes und lauschte dem Konzert der Blätter und Vögel. Er nahm auf einmal die Schönheit und Einzigartigkeit dieses Waldes war. Warum nur hatte er dies bloß nicht schon vorher wahrgenommen?

Ein paar Gnome hörten ihn noch, wie er vergnügt vor sich hin summte und pfiff. Es war seine eigene Melodie…

Wie klingt die Melodie deines Herzens?